Fachwissen

«Verhandeln ist ein People’s Business»

Botschafter Markus Schlagenhof ist Chefunterhändler für die Handelsabkommen der Schweiz. Er wird an der Fachtagung «Brennpunkt Nahrung» vom 7. November 2023 referieren. foodaktuell hat mit ihm über bilaterale Abkommen und die aktuelle Bedeutung der WTO gesprochen.

Herr Schlagenhof, Sie sind eben aus Indien zurück. Was haben Sie dort gemacht?

Wir waren zum Ministertreffen der G-20 Länder im Bereich Handel
und Investitionen eingeladen. Das hat es uns ermöglicht, Kontakte zu pflegen und
neue aufzubauen. Wir haben das verbunden mit den Verhandlungen mit Indien für
ein Freihandelsabkommen. Seit dem letzten Herbst haben sich die Bemühungen stark intensiviert. Indien ist zur Einsicht gekommen, dass es sich auch in globale Wertschöpfungskette integrieren muss, es ist sich aber auch seiner Bedeutung bewusst. Indien ist kein einfacher Verhandlungspartner.

Was bringt ein Abkommen mit Indien der Schweizer Wirtschaft?

Tarifär gesehen wird es auf dem indischen Markt Chancen für unsere Unternehmen geben, weil es heute noch ein geschützter Markt mit hohem Diskriminierungspotenzial ist: Indien ist auch mit der EU, mit Grossbritannien, mit Australien und Kanada am Verhandeln. Wenn
diese Länder einen präferenziellen Zugang haben und die Schweiz nicht, dann haben Schweizer Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil, wenn sie hohe Zölle bezahlen müssen. Heute werden beispielsweise für Schokolade in Indien Zölle von bis zu 33 Prozent erhoben.

Die Schweizer Landwirtschaft hat nichts zu befürchten?

Nein. Indien muss in erster Linie die eigene Bevölkerung ernähren. Reis und Zucker werden zwar in grossem Stil produziert und exportiert. Aber beim Zucker ist klar, dass der Grenzschutz der Schweiz nicht in Frage gestellt wird.


«Ein Abbau von Grenzschutz wird in nächster Zeit politisch nicht mehrheitsfähig sein»

Markus Schlagenhof


Wie hat die Covid-Pandemie Ihre Arbeit verändert?

Verhandeln ist ein «People’s Business». Corona hat uns gezeigt, dass man über Videocalls zwar viel erreichen kann. Und die Phase nach Corona hat bestätigt, dass rein virtuell nicht immer die gewünschten Fortschritte gemacht werden können. Wenn ich einem Verhandlungspartner im Vertrauen etwas erklären will, kann ich das persönlich viel
besser, als wenn im Videocall 20 weitere Leute zuhören. Insgesamt hat sich die Arbeit während Covid sehr verlangsamt, weil in Videocalls mit manchen Ländern kaum Fortschritte zu erzielen sind.

Beim Abkommen mit Mercosur stand die Schweiz schon mal kurz vor dem
Abschluss. Was ist passiert?

2019 hat man das Abkommen in der Substanz abgeschlossen. Bei ein paar Themen brauchte es noch Expertengespräche, zum Beispiel bei Geografischen Angaben (GI) oder den Ursprungsregeln. Dann kam der Regierungswechsel in Argentinien. Die neue Regierung ist nicht ganz so handelsfreundlich und es wurden fast alle relevanten Posten neu besetzt. Und dann kam Corona, was die Lösungsfindung auch nicht vereinfacht hat. Jetzt sind wir daran, eine neue Dynamik hineinzubringen. Bundesrat Guy Parmelin war im Juli mit einer grossen Delegation in Brasilien. Man konnte ein gemeinsames Verständnis schaffen, was man bis wann erreichen will. Wir intensivieren die Kontakte, virtuell, nach Möglichkeit auch physisch.

In der EU sind neue Diskussionen um ein Abkommen mit Mercosur aufgeflammt.
Kann die Schweiz ein Abkommen vor der EU abschliessen?

Der politische Willen ist auf beiden Seiten da, das rasch zu dynamisieren, aber es ist schwierig, einen Zeithorizont zu geben. In der Substanz haben wir die Verhandlungen nach der EU abgeschlossen, das Ergebnis ist sehr gut, materiell teilweise sogar besser als dasjenige der EU – etwa, was Marktzugang anbelangt. Im Agrarbereich konnten wir ein
Abkommen abschliessen, das den agrarpolitischen Bedingungen Rechnung trägt, das ist nicht selbstverständlich. Früher forderte Mercosur als Voraussetzung von Verhandlungen, dass wir bereit sind, unseren Agrarmarkt öffnen. Dass sich dies geändert hat, ist ein sehr grosses Verdienst von alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Die EU ist mit ihren Zugeständnissen substanziell weitergegangen, zum Beispiel bei Konzessionen für Fleischimporte.

Die Schweizer Käsebranche ist interessiert, nach Südamerika zu exportieren, stösst aber
dort beispielsweise auf einheimischen Käse, der Gruyère genannt wird. Was ist hier die Lösung?

Das ist eines der schwierigen offenen Themen. Hier muss man eine Lösung finden mit
einer Frist, bis wann südamerikanische Käser ihre Produkte unter diesen Namen weiter
verkaufen können.

Das Freihandelsabkommen mit Indonesien ist in Kraft, es hat wegen den Palmölimporten für grosse Diskussionen gesorgt. Wie läuft die Umsetzung?

Indonesien war nie ein traditioneller Herkunftsmarkt von Palmöl. Mit dem Abkommen werden bestehende Warenflüsse aus traditionellen Herkunftsländern nicht zwingend gleich umgelenkt. Es dauert eine Weile, bis die neuen Lieferanten gefunden sind. Bisher gab es vereinzelte Gesuche für Palmölimporte, die man bewilligen konnte, weil sie die Anforderungen des Abkommens erfüllen. Aber es ist so, wie wir erwartet haben: Der Schweizer Markt wird nicht mit Palmöl aus Indonesien überschwemmt. Dazu kommt, dass die Schweizer Industrie sich schon früh dazu verpflichtet hat, nachhaltiges Palmöl nach gewissen Standards zu importieren. Man hat mit dem Abkommen also eher bestehende
Geschäftsmodelle codifiziert und damit klar signalisiert, dass der Schweizer Markt ein Markt für nachhaltiges Palmöl ist.


«Die Handelspolitik ist nicht immer das richtige Instrument, um mehr Nachhaltigkeit zu erreichen»

Markus Schlagenhof


Was bedeutet das Abkommen mit Indonesien für die Verhandlungen mit Malaysia, dem anderen grossen Palmöl-Lieferanten?

Wir haben Malaysia gegenüber stets klar gesagt, dass die mit Indonesien gefundene Lösung beim Palmöl der Benchmark ist - das Referendum gegen das Freihandelsabkommen mit Indonesien wurde relativ knapp mit 51,6% angenommen. Mehr oder etwas anderes aushandeln ist schwierig. Wir versuchen, das so mit Malaysia umzusetzen, aber der Verhandlungsprozess geht stockend vor sich.

Bisher haben wir von bilateralen Abkommen gesprochen. Multilaterale Abkommen, wie man sie früher bei den WTO-Ministerkonferenzen ausgehandelt hat, scheinen nicht mehr möglich zu sein.

Die WTO wurde gegründet, nachdem der Kalte Krieg beendet war und Nordamerika sich zu einer Freihandelszone zusammengeschlossen hatte. Aus dieser Aufbruchstimmung entstand die WTO und im Anschluss daran die Doha-Runde mit dem Ziel, den Handel bei Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen weiter zu liberalisieren. Die Ministerkonferenz in Seattle 1999 war bereits die erste Vorwarnung, dass es zunehmend schwieriger werden würde. Mit der Blockbildung und dem wirtschaftlichen Erstarken von Ländern wie China, Brasilien, Indien und Südafrika wurde immer klarer, dass die Doha-Runde als Projekt nicht mehr umsetzbar ist, weil kein Konsens möglich ist. Man hat dann begonnen, die «low-hanging fruits» zu pflücken. In Bali 2013 hat man das multilaterale Abkommen über Handelserleichterungen abgeschlossen als letztes multilaterales Abkommen, man hat in Nairobi eine Erweiterung des Informationstechnologieabkommens erreicht, das die Zölle von weiteren IT-Produkten beseitigt und die Exportsubventionen
vollständig verboten. In Genf hat man letztes Jahr den ersten Schritt für ein multilaterales Fischereiabkommen machen können. Da hat man schon gewisse Meilensteine erreicht. Aber ohne eine umfassende Verhandlungsrunde wie die Doha-Runde ist es schwierig, in den Bereichen Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungen noch substanzielle multilaterale Reformen zu erreichen. Aber es gibt weiterhin einen grossen Druck, dass bei der Inlandstützung im Agrarbereich reformiert wird. Die Industrieländer haben gewisse Rechte, ihre Produktion zu subventionieren, welche die Entwicklungsländer nicht in diesem Umfang erhalten haben. Die Entwicklungsländer möchten hier mehr Balance und machen grossen Druck. Momentan ist aber nichts spruchreif.

Die Schweizer Landwirtschaft und erste Verarbeitungsstufe hat in nächster Zeit auch bezüglich Grenzschutz nichts zu befürchten oder? Das heisse Thema derzeit ist die Ökologisierung.

Das sehe ich auch so, ein isolierter Abbau des Grenzschutzes wird in nächster Zeit politisch kaum mehrheitsfähig sein. Ökologisierung ist richtig und wichtig. Man muss aber
wegkommen vom Narrativ, dass inländische Produkte per se nachhaltig und importierte
per se nicht nachhaltig sind. Man weiss, dass Transporte einen marginalen Teil des ökologischen Fussabdrucks eines Produktes ausmachen. Den grössten Teil macht die Produktion selbst aus.

Links-grüne Kreise, aber auch bäuerliche Kreise wünschen, dass bei den Importregeln vermehrt Kriterien der Nachhaltigkeit zum Zug kommen, so auch bei der abgelehnten Fair-Food-Initiative.

Die Handelspolitik ist nicht immer das richtige Instrument, um mehr Nachhaltigkeit zu
erreichen. Mit einem Handelsabkommen kann ich vor allem die Einhaltung von internationalen Verpflichtungen erzwingen und Verstösse sanktionieren. Mir scheint es der
falsche Ansatz, via Handelsabkommen eine Sanktionierung in einem Nachhaltigkeitsbereich einführen, wenn es für die zugrundeliegende Verpflichtung etwa bei der Internationalen Arbeitsorganisation ILO oder beim Pariser Klimaschutzabkommen selber keine Sanktionierungsmöglichkeit gibt. In unseren neuen Freihandelsabkommen
schlagen wir unseren Partnern jeweils die Einsetzung eines Expertenpanels vor, das Verstösse im Nachhaltigkeitsbereich prüfen und Empfehlungen abgeben kann. Wir sind der Überzeugung, dass man im Bereich Nachhaltigkeit partnerschaftliche Lösungen finden und die Länder auf dem Weg unterstützen muss. Nachhaltigkeit bedeutet auch nicht in allen Ländern das Gleiche. Manchmal entsteht der Eindruck, dass wir Nachhaltigkeitsimperialismus betreiben.

Die Schweiz hat schon zwei Anläufe genommen für ein Abkommen mit den USA. Was ist daraus geworden?

Unter der Regierung Trump haben wir exploriert, was die Möglichkeiten sind. Diese konnte aber nicht abgeschlossen werden. Unter der Regierung Biden haben sich diese Gespräche nun in Richtung sektorielle Stärkung der Handelsbeziehungen entwickelt. Beim ersten Versuch 2005 hatten die USA absolute Vorstellungen von einer Öffnung der Agrarmärkte. Solche Dinge müssen geklärt sein, bevor man mit Verhandlungen beginnt. Es ist klar, dass wir stets im Rahmen der bestehenden Agrarpolitik verhandeln. Ebenso klar ist, dass für die Regierung Biden Abkommen mit Marktzugang nicht erwünscht sind. Für die Schweiz wäre ein verbesserter Marktzugang insbesondere dann wichtig, wenn sie gegenüber anderen Ländern diskriminiert wäre. Das ist nicht derzeit der Fall.

Die Schweiz hat ein Abkommen mit China abgeschlossen. Viele Exporteure, auch aus der Lebensmittelbranche, sind ernüchtert: Gesetzliche Willkür macht den Handel in China weiterhin schwierig.

Das hat vielleicht mit falschen Erwartungen zu tun. So ein Abkommen kann nicht schrankenlosen Handel bieten, das war immer klar. Damit kann man Zölle abbauen, Zollverfahren und manche technischen Vorschriften erleichtern, aber es wird nie möglich sein, von A bis Z einen präferenziellen und bedingungslosen Marktzugang zu erhalten. Relevant ist, dass man gegenüber anderen Mitkonkurrenten nicht diskriminiert wird.

Was ist das nächste Dossier auf Ihrem Tisch, wohin geht die nächste Reise?

Derzeit hat der Prozess mit Indien sehr stark an Dynamik gewonnen Ich war im Juli und August in Indien und weitere Treffen sind geplant. Aber auch Thailand ist ein Prozess, der sehr gut läuft. Wir haben regelmässige Verhandlungsrunden und einen Fahrplan. Es ist realistisch, dass man diese Verhandlungen in absehbarer Zeit abschliessen kann.

Wie interessant ist Thailand für Schweizer Lebensmittelexporteure?

Man sollte den Markt nicht unterschätzen. Die asiatischen Märkte haben zwar keine Milchprodukte-Kultur, aber beispielsweise für Kaffee und auch andere Verarbeitungsprodukte ist Thailand ein sehr interessanter Markt. Man sieht heute schon verschiedene Schweizer Produkte in den Läden.

Das Interview erschien im Fachmagazin «Foodaktuell» in der Ausgabe 9 2023.