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Fachwissen Brennpunkt Nahrung 2025

«Wir sind Partnerin in einer Symbiose»

Matthias Wunderlin, seit Anfang 2024 Chef der Migros-Industrie, wird an der Fachkonferenz Brennpunkt Nahrung zum Thema Fachkräftereferieren. Foodaktuell hat mit ihm über den Strategiewechsel bei der Migros-Industrie, Logistikprobleme und vieles mehr gesprochen.

Brennpunkt Nahrung
Luzern, Schweiz

Das Interview ist erschienen in der foodaktuell-Ausgabe 9 | 2025. Autor Roland Wyss-Aerni

Herr Wunderlin, was hält Sie derzeit am meisten auf Trab?
Die Rückführung der Migros-Industrie in die Rolle der integrierten Produzentin beschäftigt und fordert mich am meisten. Das ist ein Strategiewechsel, den wir vor eineinhalb Jahren eingeleitet haben und den wir in den nächsten Jahren vollziehen werden. In den letzten zwei Monaten haben mich die IT-Probleme der Elsa Group am meisten gefordert.

Das Thema, das aktuell die ganze Schweiz beschäftigt, sind Trumps bizarr hohen Zölle. Wie stark beschäftigt Sie das?
Wir sind nicht stark exponiert, aber es beschäftigt uns, vor allem beim Käseexport. Die Frage ist, ob wir den Export für zwei bis drei Monate unterstützen oder ob wir die Preise bereits heute eins zu eins weitergeben und schauen, was mit den Mengen passiert. Darauf haben wir noch keine Antwort. Im Moment geben wir die Preise weiter, aber wir prüfen die Situation laufend. Dazu sind wir in Diskussionen mit verschiedenen Organisationen in der Milchbranche, denn die Zölle betreffen den ganzen Milchmarkt. Bei der Schokolade sind wir nicht stark exponiert, weniger als ein Prozent unserer Schokolade geht in die USA.

Früher wollte die Migros-Industrie mit Exporten die Produktionskapazitäten auslasten – mit Eigenmarken im ausländischen Detailhandel, aber auch mit Marken wie Frey oder Café Royal. Die neue Strategie ist eine krasse Wende um 180 Grad. Angesichts des kleinen und umkämpften Schweizer Marktes tönt das nicht sehr zukunftsträchtig.
Bei der Micarna, der Fresh Food & Beverage Group und der Elsa gibt es kaum Exporte, mit der Ausnahme von Käse. Bei der Delica, im Kaffee- und Schokoladengeschäft, wo wir exportieren, brauchen wir tatsächlich gewisse Skaleneffekte. Den Kaffee-Export haben wir auch nicht zurückgefahren, dort sind wir erfolgreich. Wir sind der drittgrösste Produzent von Nespresso-kompatiblen Kapseln in Europa. Wir haben eine neue Produktionslinie gebaut und werden weiterwachsen.


«Die Rückführung der Migros-Industrie in die Rolle der integrierten Produzentin beschäftigt und fordert mich am meisten.»

Matthias Wunderlin


Und bei der Schokolade?
Da ist es ein wenig anders. Wir wollen in der Schweiz für die Schweiz Schokolade produzieren. Dabei haben wir das gleiche Problem wie alle anderen in der Branche: Der Schweizer Markt ist zu klein für die vorhandenen Produktionskapazitäten, also braucht es den Export. Hier verzichten wir neu auf das Markengeschäft mit Frey, wir konzentrieren uns auf die Produktion von Eigenmarken von Dritten. Als Hersteller von Eigenmarken muss man viel stärker an der Kosteneffizienz arbeiten.

Und welchen USP können Sie als einer der vielen Schweizer Schokoladenhersteller im Export anbieten?
Wir investieren in die Automatisierung der Produktionslinien, um noch wettbewerbsfähiger zu werden. Swissness ist ein kleiner Teil des USP, den Rest müssen wir über Qualität und weitere Kosteneffizienz bringen. Zur Qualität erhalten wir schon heute gute Feedbacks.

Sie haben erwähnt, dass der kultige Ice Tea künftig möglicherweise in Aproz abgefüllt wird.
Der Entscheid ist noch nicht gefallen. In Aproz haben wir gute Quellen: für die nächsten Jahrzehnte haben wir Wasser, um das uns viele beneiden, und wir haben Platz. In Bischofszell produzieren wir einen kleinen Teil der Getränke – Sirup, Ice Tea und Orangensaft. Es würde sich also anbieten, die Technologien in Aproz zu bündeln und in Bischofszell Platz für andere Sortimente zu schaffen.

Wir positionieren uns als «integrierte Produzentin». Das klingt nach einer spektakulären Repositionierung. Aber eigentlich ist es genau das, was die Migros-Industrie bis 2010 gemacht hat: Sie war da, um den Supermarkt mit guten Lebensmitteln zu versorgen. Mit dem Einführen der Fremdmarken 2007/2008 hat die Migros-Industrie den Wegfall von Absatz mit teilweise unrentablem Drittgeschäft kompensiert.

Es hiess auch, dass die Migros ihre eigene Industrie in Konkurrenz zu den Markenherstellern setzt, damit die Migros-Industrie wettbewerbsfähig bleibt.
Diese Auffassung teile ich nicht. Natürlich ist es eine Herausforderung, wettbewerbsfähig zu bleiben, wenn man einen garantierten Kunden hat. Gleichzeitig ist klar, dass die grossen Mengen bei Fleisch, Brot, Milch und Käse von uns kommen müssen. Es gibt niemanden anderen, der diese Volumen bereitstellen könnte. Wir sehen uns nicht in einem klassischen Kunden-Lieferanten-Verhältnis, sondern als Partnerin in einer Symbiose. Gemeinsam arbeiten wir am Erfolg des Supermarktes, an einem herausragenden Kundenerlebnis und daran, die Bedürfnisse unserer Kundinnen und Kunden zu erfüllen. Diese Denkweise spiegelt eine kulturelle Veränderung wider, die wir unseren Mitarbeitenden mitgeben.


Von McKinsey zu Migros

Matthias Wunderlin ist seit Dezember 2023 Leiter der Migros-Industrie. Davor war er von Anfang 2019 bis Herbst 2023 Leiter Supermarkt und von August 2023 bis Anfang 2024 Chief Transformation Officer. Von 2016 bis 2018 war Wunderlin Head of International Distribution beim Fahrradhersteller Scott Sports SA, davor Spartenleiter Micasa und Do It + Garden bei Migros und Unternehmensberater bei McKinsey. Matthias Wunderlin hat an der Universität Zürich Wirtschaftswissenschaften studiert.


Kulturwechsel ist das eine. Aber Sie haben ja auch Mitarbeitende entlassen, zum Beispiel bei der Delica.
Das waren schmerzhafte Entscheide. Aber die Korrekturen am Exportgeschäft waren für die Weiterentwicklung der Migros-Industrie und für den Erfolg des Supermarktes wichtig. Wir haben auch Entscheide auf Basis der Erkenntnis gefällt, dass kleine, regionale Sortimente nicht zu unseren Kernstärken gehören.

Auch beim Schwyzer Milchhuus haben Sie Stellen abgebaut und sogar zwei Standorte geschlossen.
Beim Schwyzer Milchhuus haben wir regionale Artikel in kleinen Mengen produziert; für eine oder zwei Genossenschaften. Es gibt regionale Anbieter, die das besser können und deshalb haben wir die Käseproduktion geschlossen.

Dafür ist Simmental Switzerland zum wichtigen Player für die Migros geworden, mit dem Erfolgsprodukt Raclette.
Die Hauptidee war die Kooperation mit Aaremilch, um die Versorgung der Elsa mit Milch zu gewährleisten. Teil der Vereinbarung mit der Aaremilch war die Übernahme der Käserei, die nun mit der Herstellung von Raclette sehr gut ausgelastet ist.

Welche Bedeutung hat Forschung und Entwicklung künftig für die Migros-Industrie?
Wir wollen die Forschung und Entwicklung stärken, sie ist ein Schlüssel unseres Erfolgs. Die Frage ist aber, was für eine Forschung wir machen wollen. Wir forschen nur in Gebieten, in denen der Supermarkt ein Bedürfnis hat und wo wir auf absehbare Zeit Erfolg haben können. Wir machen keine Grundlagenforschung, um zu schauen, was davon in zehn Jahren funktioniert. Das überlassen wir Unternehmen, die auf langfristige Innovationsansätze spezialisiert sind. Was wir hingegen gut können ist, Technologien, die sich am Markt durchsetzen, gezielt zu integrieren und sie für uns nutzbar zu machen. Nehmen wir CoffeeB als Beispiel: CoffeeB bleibt eine grossartige Innovation, die ein echtes Bedürfnis der Kundinnen und Kunden adressiert – nämlich Alternativen zu Aluminium- oder Plastikkapseln. Gleichzeitig müssen wir realistisch bleiben: Die weltweite Vermarktung einer solchen Innovation liegt ausserhalb unserer Kernkompetenzen und wäre eine Überschätzung unserer Möglichkeiten.

Die ELSA hatte im Juni und Juli eine Art logistischen Super-GAU und konnte ziemlich lange manche Milchprodukte und Käse nicht mehr liefern. Wie beurteilen Sie den Vorfall?
Wir haben den Anspruch an uns, dass wir für Versorgungssicherheit stehen. Dies war nicht gewährleistet. Das kann man nicht schönreden. Aber die Schweiz hatte immer Käse, niemand musste hungern. Technisch müssen wir noch Korrekturen machen. Für die Kundinnen und Kunden ist dies aktuell aber nicht mehr spürbar.

Gibt es weitere Bereiche in der Migros-Industrie, wo es noch ähnliche Probleme geben könnte?
Vor uns liegt noch die SAP-Umstellung bei der Micarna. Natürlich haben wir Respekt davor, aber wir wissen sehr genau, was bei der Elsa nicht geklappt hat, und haben bei früheren Einführungen bei Delica und der FFB-Group gezeigt, dass solche Umstellungen gut funktionieren.


«Wir sehen uns nicht in einem klassischen Kunden-Lieferanten-Verhältnis, sondern als Partnerin in einer Symbiose.»

Matthias Wunderlin


Bei den Mühlen gab es im letzten Jahr eine Missstimmung, nicht zuletzt wegen der Migros. Wie sehen Sie das?
Mario Irminger hat auch gesagt, dass wir uns an den Branchenrichtpreisen orientieren. Aber unsere Preisstrategie für die Verkaufspreise ist das eine, die Branchenrichtpreise sind etwas anderes.

Das Problem wird für Sie ja noch dadurch verschärft, dass die Migros mit den Tiefpreisen auch den eigenen Discounter Denner konkurrenziert, den sie ja auch beliefern.
Das Gros des Sortimentes, das wir beschaffen, kommt aus der Schweizer Landwirtschaft. Dort orientieren wir uns an den Richtpreisen und wir wollen ein fairer Partner sein. Die Migros-Industrie ist der grösste Einkäufer von landwirtschaftlichen Produkten in der Schweiz. Es ist ein Spannungsfeld, dass wir faire Produzentenpreise bezahlen wollen, aber auch tiefe Konsumentenpreise anbieten. Damit uns das möglich ist, müssen wir an Effizienz gewinnen. Dafür haben wir schon viele verlustbringende Geschäfte beendet. Wir werden effizienter in der Produktion und wir haben Administrationskosten gesenkt.

Künstliche Intelligenz ist ein Thema, das alle Branchen beschäftigt. Welche Bedeutung hat es für die Migros-Industrie?
Wir sind in der Produktion am Anfang. Das Thema wird uns die nächsten Jahre beschäftigen, aber für 2025 haben wir andere Themen priorisiert, zum Beispiel strategische Fragen. In meinem früheren Job als Marketingchef im Migros-Genossenschafts-Bund haben wir mit KI relativ viel im Marketing und in der Kommunikation gemacht.

Wo sehen Sie die ersten Anwendungsgebiete?
Das erste und offensichtlichste ist die Produktionsplanung in Verbindung mit zum Beispiel Wetterdaten. Da haben wir als integrierte Produzentin ein grosses Potenzial, weil wir die Abverkaufszahlen kennen. Da werden wir auch rasch Fortschritte erzielen können. Weitere Anwendungsgebiete sind die Personalplanung oder Rezept-Formulierungen, die es uns ermöglichen, Kosten zu reduzieren und die Qualität zu verbessern.

Was wird es für die Mitarbeitenden bedeuten? Brauchen Sie weniger Mitarbeitende oder Mitarbeitende mit anderen Qualifikationen?
Aufgrund der Produktionsplanung oder Personalplanung werden wir in den nächsten fünf Jahren nicht weniger Mitarbeitende brauchen. Wir werden dank KI einfach besser arbeiten können, weniger Ausschüsse produzieren und weniger Leerverkäufe haben. Es braucht aber punktuell im Team andere Anforderungsprofile und wir müssen unsere Leute in diesem Bereich weiterbilden.

An der Fachkonferenz Brennpunkt Nahrung wird es auch darum gehen, wie Firmen die Fachkräfte gewinnen, die sie benötigen. Was kann die Migros-Industrie hier bieten?
Grundsätzlich gelingt es uns weiterhin, Mitarbeitende zu finden. Allerdings stellen wir zunehmend fest, dass es insbesondere bei Fachkräften in der Produktion, an der Linie sowie bei höher qualifizierten Spezialistinnen und Spezialisten schwieriger wird, offene Positionen zu besetzen. Wir haben heute schon 460 Lernende, wir müssen künftig noch mehr in die Ausbildung investieren. Wir werden auch nicht darum herumkommen, mehr in die Automatisierung zu investieren, weil wir gewisse Fachkräfte künftig nicht mehr finden werden. Die Arbeit bei uns ist teilweise körperlich herausfordernd, mit Schichtarbeit, für die wir qualifiziertes Personal brauchen. Da müssen wir neue Modelle schaffen, um die Arbeitsplätze noch attraktiver zu machen. Der Lohn ist nur ein Teil davon. Es geht auch um die Vereinbarkeit mit der Familie und um Planungssicherheit.


«Die Migros-Industrie ist dafür da, den Supermarkt mit guten Lebensmitteln zu versorgen.»

Matthias Wunderlin


Mit der Erklärung von Mailand haben sich Schweizer Unternehmen verpflichtet, Zucker zu reduzieren. Aldi hat sich auch ein Salzreduktionsziel gesetzt. Weshalb nicht die Migros?
Die Migros hat sich bei der Erklärung von Mailand bewusst auf die Zuckerreduktion konzentriert, weil wir hier den grössten Hebel für eine gesündere Ernährung sehen. Das heisst aber nicht, dass wir beim Salz untätig sind – im Gegenteil: Seit Jahren arbeiten wir freiwillig und Schritt für Schritt daran, den Salzgehalt in unseren Produkten zu reduzieren, zum Beispiel bei Brot, Suppen, Fleischwaren und Fertiggerichten.

Wie wird sich aus Ihrer Sicht das Thema Fleischersatz entwickeln?
Fleischersatz wird im Absatz noch ansteigen, aber ich bin nicht überzeugt, dass er ein Gamechanger ist. Ich kann mir vorstellen, dass die Menschen eher auf pflanzliche Produkte ausweichen als auf Kopien von Fleischprodukten. Denkbar wären auch Produkte, etwa Hackfleisch, bei denen ein Teil durch pflanzliche Rohstoffe ersetzt wird.

Die Migros und die Migros-Industrie stehen unter Dauerbeobachtung der Medien, es gibt auch viel Kritik. Wie gefällt Ihnen Ihr Job nach gut eineinhalb Jahren?
Der Job ist sehr bereichernd. Es ist ein Privileg, für die Migros-Industrie zu arbeiten, mit diesem breiten Portfolio. Das gibt es in Europa sonst nirgends.

Aber Sie sind schon unter Druck. Die Chefs der Supermarkt AG sagen Ihnen, was sie von Ihnen brauchen.
Ja. Der Supermarkt muss ein Sortiment zusammenstellen und entscheiden, wie das Regal aussieht. Das ist ihre Verantwortung. Die Diskussion ist heute viel intensiver und enger als vorher, was ich sehr begrüsse. Die Migros-Industrie will einen wichtigen Beitrag leisten für einen erfolgreichen Supermarkt.

Ihre Kontaktperson

Barbara Kretz

Barbara Kretz

Kongressleiterin

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